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Der Betriebsrat im Tendenzbetrieb und in Religionsgemeinschaften – Grenzen der Einschränkung von Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechten

Der Unternehmer und Arbeitgeber bestimmt über die Ausgestaltung des Betriebs und die damit verbundenen organisatorischen Fragen – dieser Grundsatz gilt nur eingeschränkt: In Betrieben, in denen ein Betriebsrat etabliert ist, sind zahlreiche betriebliche Regelungen der Alleinentscheidungsbefugnis des Arbeitgebers entzogen. In zahlreichen Regelungsbereichen ist der Betriebsrat zu beteiligen. Maßgeblich sind insoweit die Vorgaben des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG). Dieses statuiert Beteiligungsrechte des Betriebsrats von schwächer ausgeprägten Mitwirkungsrechten bis hin zu echten Mitbestimmungsrechten. Letztere schließen Alleinentscheidungen des Arbeitgebers aus. Dies gilt zum Beispiel bei „sozialen Angelegenheiten“ im Sinne von § 87 Abs. 1 BetrVG (Dienstplangestaltung, Ordnung des Betriebs, Urlaubsfragen, Festsetzung von Akkord- und Prämiensätzen etc.) und personelle Einzelmaßnahmen gemäß § 99 Abs. 1 BetrVG (Einstellung, Eingruppierung, Umgruppierung und Versetzung). Wegen Einzelheiten hierzu verweisen wir auf unsere weiteren Informationen.

 

Der Gesetzgeber hat festgelegt, dass die weitreichenden Kompetenzen des Betriebsrats in sogenannten Tendenzbetrieben und Religionsgemeinschaften eingeschränkt sein können. Die maßgebliche Regelung hierzu findet sich in § 118 BetrVG. In Unternehmen und Betrieben, die unmittelbar und überwiegend entweder

– politischen, koalitionspolitischen, konfessionellen, karitativen, erzieherischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Bestimmungen oder

– Zwecken der Berichterstattung oder Meinungsäußerung, auf die Art. 5 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes Anwendung findet,

sollen die Vorschriften des BetrVG keine Anwendung finden, soweit die „Eigenart des Unternehmens oder Betriebes“ dem entgegensteht (Tendenzbetriebe). Nach § 118 Abs. 2 BetrVG findet das Gesetz auf Religionsgemeinschaften und ihre karitativen und erzieherischen Einrichtungen ungeachtet ihrer Rechtsform keine Anwendung.

Ist ein Unternehmen/Betrieb als Tendenzunternehmen/-betrieb zu betrachten, bedeutet dies aber noch lange nicht, dass gesetzliche Rechte des Betriebsrats ausgeschlossen sind. Wie der Gesetzeswortlaut deutlich zum Ausdruck bringt, sollen auch im Tendenzbetrieb etwaige Betriebsratsrechte nur insoweit eingeschränkt werden können, als dass diese „Tendenzbezug“ haben.

Wann von einem Tendenzbetrieb auszugehen ist und inwieweit Betriebsratsrechte eingeschränkt sind, ist umstritten und bedarf der näheren Beleuchtung:

 

1. Tendenzbetrieb

Die Inanspruchnahme der besonderen Rechtsstellung von Tendenzbetrieben erfolgt zum Teil missbräuchlich. Die Reichweite der Tendenzschutzvorschrift in § 118 BetrVG wird häufig verkannt.

Das BetrVG ist darauf ausgerichtet, der Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Betrieb weitgehende Geltung zu verschaffen. Es erstreckt sich grundsätzlich auf den gesamten Bereich der in privater Form organisierten Betriebe. Nur in eng gesetzten Ausnahmefällen können die Mitbestimmungsrechte, die im wohl verstandenen Interesse auch des jeweiligen, den Betrieb unterhaltenden Unternehmens eingerichtet sind, eingeschränkt werden. Der Ausnahmecharakter der die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats einschränkenden Vorschriften in § 118 BetrVG ist schon vom Bundestagsausschuss für Arbeit und Sozialordnung anerkannt worden (Bericht des BT-Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drucksache VI/2729, S. 17). Nach Auffassung des Gesetzgebers solle es einer uneingeschränkten Mitbestimmung im Betrieb nicht bedürfen, wenn die betriebliche Tätigkeit ausschließlich oder überwiegend von einer geistig-ideellen Zielrichtung in den im Gesetz selbst genannten Bereichen geprägt ist.

Den Gesetzesmaterialien ist zu entnehmen, dass der Normzweck des § 118 Abs. 1 BetrVG gerade darin besteht, eine ausgewogene Regelung zwischen dem Sozialstaatsprinzip einerseits und den Freiheitsrechten der Tendenzträger andererseits zu finden. Der Tendenzschutz nimmt auf grundrechtliche Freiheitsrechte Bezug, deren Reichweite die Einschränkung der auf das Sozialstaatsprinzip begründeten Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats begründet.

Die Eigenschaft als Tendenzbetrieb/-unternehmen setzt voraus, dass der Betrieb/das Unternehmen einer geistig-ideellen Zielrichtung dient. Insoweit ist anerkannt, dass eine solche Zielrichtung ein gewisses Niveau aufweisen muss und nicht lediglich „nebenbei“ verfolgt wird. Davon ist üblicherweise dann nicht mehr auszugehen, wenn ein Unternehmen rein kommerzielle Zwecke verfolgt, selbst wenn der Unternehmer dabei gewisse ethische oder ideelle Zielsetzungen beachtet oder in den Vordergrund stellt. Besonders problematisch ist die Feststellung der Tendenzbetriebseigenschaft bei sich als karitativ darstellenden Unternehmen und Betrieben.

Karitative Tätigkeit wird üblicherweise als uneigennützige, von Hochachtung und Zuwendung geprägte Betätigung begriffen. Karitative Tätigkeiten lassen sich grundsätzlich allenfalls in im Art. 1 GG enthaltenen Schutz der Menschenwürde verorten. Eine weitere grundrechtliche Absicherung besteht nicht.

Die Menschenwürdegarantie in Art. 1 Abs. 1 GG hat den Charakter eines Leitprinzips für die Auslegung der Art. 1 GG nachfolgenden und konkreter gefassten Grundrechte. Die Reichweite dieses Grundrechts ist damit unbeschränkt. Dies hat aber zur Folge, dass unter Bezugnahme auf eben ein derart weitreichendes Grundrecht keine gleichfalls weitreichende Einschränkung von Mitbestimmungsrechten nach dem BetrVG erfolgen darf. Würde man für die Anwendung von § 118 Abs. 1 BetrVG ausreichen lassen, dass eine betriebliche Zielsetzung Berührung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG hat, wäre die betriebliche Mitbestimmung nahezu vollständig entwertet. Daher ist gerade im Bereich „karitativer“ Betriebe danach zu fragen, ob eine gesteigerte geistig-ideelle Zielrichtung verfolgt wird.

Letztere ist streng von einer bloßen betrieblichen Betätigung im Sozialwesen abzugrenzen. Ist ein Betrieb zu dem Zwecke eingerichtet, Vorgaben der Sozialgesetzbücher umzusetzen, ist noch lange keine geistig-ideelle Zielrichtung gegeben oder zu vermuten. Eine solche geht weit über die bloße Umsetzung von Sozialrecht hinaus. Dies hat zur Folge, dass insbesondere zahlreiche Berufsförderungswerke (BFW) nicht als Tendenzunternehmen/Tendenzbetriebe im Sinne von § 118 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG zu betrachten sind. Diese erfüllen in der Rechtsform einer gemeinnützigen Gesellschaft mit beschränkter Haftung (gGmbH) lediglich gesetzgeberische Aufträge und stützen sich auf die ihnen vom Staat übertragenen Verpflichtungen, insbesondere nach dem SGB IX. Sie werden daher ebenso wenig wie sonstige Träger von Sozialleistungen, wie zum Beispiel Jobcenter/gemeinsame Einrichtungen nach dem SGB II im Rahmen der Arbeitsförderung, als Tendenzbetriebe anzusehen sein.

 

2. Tendenzbezug von Betriebsratsrechten

Nach ständiger Rechtsprechung sind Mitbestimmungsrechte auch im Anwendungsbereich des § 118 Abs. 1 BetrVG nur dann einzuschränken, wenn eine konkrete Maßnahme Tendenzbezug hat und die Möglichkeit eröffnet, dass die geistig-ideelle Zielsetzung des Unternehmens und deren Verwirklichung durch die Beteiligung des Betriebsrats zumindest ernsthaft beeinträchtigt werden kann.

Ebenso ist es Allgemeingut in Literatur und Rechtsprechung, dass ein Einschränkung von Mitbestimmungsrechten in Sozialangelegenheiten auch unter dem Aspekt des Tendenzschutzes im Regelfall nicht in Betracht kommt. Jedenfalls dann, wenn es um „wertneutrale“ Regelungen zur Gestaltung des Betriebsablaufs geht, besteht keine Veranlassung, Mitbestimmungsrechte einzuschränken (BVerfG, Urteil vom 15.12.1999, Az. 1 BvR 505/95; BAG, Beschluss vom 14.01.1992, Az. 1 ABR 35/91).

Am jeweiligen Einzelfall ist zu prüfen, ob die Freiheit des Unternehmens zur Tendenzbestimmung und Tendenzverwirklichung durch die konkrete Ausübung des Mitbestimmungsrechts ernsthaft beeinträchtigt und damit das durch § 118 BetrVG geschützte Grundrecht verletzt werden könnte. In vielen Mitbestimmungsfragen ist derlei kaum denkbar. So wird auch in einem Tendenzbetrieb die Mitbestimmung über Fragen der Arbeitszeitgestaltung in den seltensten Fällen zur Gefährdung des Tendenzzwecks führen.

 

3.

Die Frage, ob eine Unternehmen/Betrieb Tendenzcharakter im Sinne von § 118 BetrVG hat, ist von ebenso großer Bedeutung wie diejenige nach dem Tendenzbezug einzelner Betriebsratsrechte. Einerseits gilt es sicherzustellen, dass der Betriebsrat ein anzuerkennende „Tendenz“ nicht gefährdet, andererseits darf der Tendenzschutz auch von Unternehmen nicht missbraucht werden. Daher ist für den jeweiligen Betrieb sorgfältig zu prüfen, ob die strengen Voraussetzungen für die Einschränkung von Betriebsratsrechten nach § 118 BetrVG erfüllt sind oder nicht. Wir unterstützen Sie hier gerne.